Zum Umgang mit Leistungsdruck (von Oskar Handow)
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift "condition" 11/03 aus dem Meyer&Meyer Verlag, Aachen.
Ich bedanke mich beim Autor Oskar Handow für die freundliche Genehmigung, diesen Artikel auf meiner 
Internetseite zu veröffentlichen. Das Copyright liegt beim Autor.
Wie schwierig die punktuelle Vorbereitung auf einen - respektive den großen - Saisonhöhepunkt ist, zeigt ein Blick auf die Ergebnisse der deutschen Starter bei der eben zu Ende gegangenen Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Selbst gänzlich auf den Sport konzentrierten Leistungssportlern -umfangreich unterstützt durch ein interdisziplinäres Betreuungsteam - gelingt diese schwierige Aufgabe nicht immer. Was kann man also als (ambitionierter) Freizeitsportler tun, um auf den Punkt fit zu sein für den geplanten Höhepunkt der Laufsaison?

Angesichts der schon gelaufenen und noch anstehenden Herbstmarathons (für zahlreiche Läufer sicherlich schon der zweite Saisonhöhepunkt) dürfte das Thema aktuell sein. Und vielleicht kennt ja der ein oder andere von Ihnen auch das Phänomen, das im Spitzensport mit dem Begriff des "Trainingsweltmeisters" umschrieben wird: Im Training läuft es im wahrsten Sinne des Wortes hervorragend - und am Tag des Zielwettkampfes gelingt einem nichts. Die angestrebten Ziele werden bei weitem nicht erreicht. Frustration macht sich breit. Zur Vorbereitung auf große Wettkämpfe, der Umsetzung am Stichtag und der Nachbereitung von Erfolgen und Misserfolgen will Ihnen dieser Artikel einige Antworten und Anregungen liefern.

Vorbereitung
Unter dieser Überschrift beschäftigen wir uns mit der mentalen Vorbereitung von wichtigen Rennen und der zugehörigen Stressbewältigung. Im Kopf wird's entschieden." Diesen Satz kann man immer häufiger von Trainern und Sportlern hören. Das ist richtig - allerdings nur teilweise: Wenn die körperliche Konstitution stimmt, so kann man einen Wettkampf, ein Rennen noch im Kopf verlieren. Fehlt aber die notwendige Fitness, so kann die mentale Seite (der Leistungswille) den Kollaps hinausschieben, aber nie verhindern. "Von zwei Sportlern, die beide gleich gut trainiert sind, wird stets derjenige besser sein, der die besseren psychischen Voraussetzungen mitbringt. Das bedeutet, dass derjenige gewinnen kann, der die besseren Nerven und die bessere Einstellung besitzt." Dieses Zitat stammt von dem Sportpsychologen Reiner Kemmler. Er tätigte diese Aussage schon 1973 - sie hat aber nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Wichtig ist der Teil, in dem erwähnt wird, dass beide gleich gut trainiert sein müssen. Deshalb gilt auch hier jenes schon häufig erwähnte Postulat, dass die physiologische Vorbereitung grundlegende Voraussetzung für alle anderen Maßnahmen ist. Stimmt der Trainingszustand, so kann man durch psychische Techniken sein Leistungspotenzial erhöhen respektive besser abrufen. Damit diese Voraussetzung erfüllt ist, sollten Sie sich mit individuell abgestimmten Trainingsplänen gezielt auf die ausgewählte Aufgabe vorbereiten (und gegebenenfalls, so Sie zu einer Risikogruppe gehören, einen Sportmediziner hinzuziehen).

Stimmt das physische Training, so können Sie mit der mentalen Vorbereitung beginnen. Darunter versteht man die gedankliche Vorwegnahme denkbarer Szenarien für den Tag X. So sind sie in aller Regel auf die anstehenden Aufgaben vorbereitet und haben für verschiedene mögliche Situationen ein taktisches Konzept in der Tasche.
Die mentale Vorbereitung beginnt mit der Einholung von Informationen über den Lauf, die Teilnehmerzahl, die Strecke (das Höhenprofil), die Versorgung, die äußeren Bedingungen etc.. Nutzen Sie dazu die Erfahrungen anderer Teilnehmer oder jene ihrer LaufpartnerInnen. Sollten Sie aus derartigen Quellen nur wenige Fakten respektive Hilfestellungen gewinnen können, so nutzen Sie das Internet.

Haben Sie Sie sich im Vorfeld ein möglichst konkretes Bild von den Gegebenheiten vor Ort machen können, so stellen Sie sich diese bildhaft vor. Sehen Sie sich in ihrer Wettkampfkleidung in der Menge der Teilnehmer, spüren Sie die klimatischen Bedingungen und die Startnervosität (und nutzen Sie dabei die verschiedenen Sinnesorgane: Wie sieht es da aus, wie riecht es, was hören Sie, wie fühlt sich ihre Laufkleidung an...). Laufen Sie in Gedanken los und halten Sie ihre Rennstrategie ein. Antizipieren Sie potenziell problematische Situationen und Ihren Umgang damit.

Dieses mentale Training lässt sich sehr weit verfeinern und inhaltlich ausdehnen. So können Sie beispielsweise mögliche taktische Szenarien einbauen (Was mache ich, wenn ... ) oder eben auch Schwierigkeiten vorwegnehmen und Gegenmaßnahmen erarbeiten (Was unternehme ich gegen Seitenstechen, erste Schmerzen usw.). Dem sind keine Grenzen gesetzt. Dabei müssen Sie nun nicht den kompletten Lauf in Echtzeit gedanklich durchexerzieren - vielmehr langt eine zeitlich komprimierte Vorbereitung der Schlüsselszenen (Start, Umgang mit Schwierigkeiten, Schlussphase).

Der zweite wichtige Aspekt bei der Umsetzung der Trainingsleistungen ist das Thema Stressbewältigung. Bei Stress unterscheidet man Eu- und Disstress. Letztgenannter ist das, was umgangssprachlich als Stress bezeichnet wird. Doch auch positive Ereignisse können mit Belastungen verbunden sein. Dann spricht man von Eustress. Bei selbstgewählten Wettkampfteilnahmen sollte in der Regel nur eben jene Art von Stress auftreten. Nichtsdestotrotz kostet das Energien, die anderweitig gebraucht werden. So macht es Sinn, sich im Vorfeld individuell passende Stressbewältigungsstrategien anzueignen.
Der meiste Druck kommt bei Freizeitsportlern nicht von außen (weder Öffentlichkeit noch Presse haben hier, wie beim Spitzensportler gang und gäbe, große Erwartungen, noch hängt die Existenz an leistungsabhängigen Fördergeldern), sondern ist selbst auferlegt. Er entsteht meist aus hohen Erwartungen, ambitionierten Zielen. Damit ist auch zugleich der zentrale Ansatzpunkt der Stressreduzierung genannt: Wenn man seine aktuelle Leistungsfähigkeit (in Abhängigkeit von Trainingspensum und -intensität) realistisch einschätzt, so sollte der Druck schwer zu realisierender Zeiten wegfallen. (Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hohe Ziele sind wichtig und überaus motivierend - aber immer nur, wenn auch mindestens eine etwa 50-prozentige Chance der Realisierung besteht! Alle anders gearteten Ziele sind unnützer Ballast.) Im Idealfall kennen Sie bereits einige Entspannungstechniken (diese erweisen sich ja auch außerhalb des wettkampforientierten Sports als überaus nützlich). Ansonsten rate ich Ihnen, sich ein seriöses Angebot in Ihrer Nähe zu suchen (kostengünstig werden oft von Volkshochschulen entsprechende Kurse angeboten).

Eine relativ einfache und darum auch hier darstellbare Technik ist die Atementspannung: Verstärktes Einatmen aktiviert den Organismus (ein Fehler, der immer wieder zu beobachten ist), bewusstes und tiefes Ausatmen beruhigt. Deshalb geht es bei Atementspannungsübungen um eben das Ausatmen. Atmen Sie tief und langsam aus; nutzen Sie dabei auch die Bauchatmung. Lassen Sie am Ende des Ausatmens die Atmung einfach kippen - dank des Atemreflexes nimmt sich der Körper jene Menge Luft, die er braucht! Diese Übung schon circa eine Minute lang ausgeführt, sollte zu merklicher Entspannung führen. Vorteil dieser Technik ist, dass man sie jederzeit und überall unbemerkt einsetzen kann.

Wenn Sie sich realistische Ziele gesetzt haben, sich mental auf die Aufgabe vorbereitet haben und die normale, zugehörige Nervosität durch Entspannungstechniken kontrollieren können, so steht der Umsetzung Ihrer Trainingsleistungen nichts mehr im Wege.

Umsetzung
Die mentale Vorbereitung hat den Vorteil, dass Sie am Tag des Starts nicht von einer Vielzahl neuer Informationen erschlagen werden. Das steigert Ihre Konzentrationsfähigkeit. Zugleich senkt eine dergestalte Präparierung auf einen Wettkampf wiederum die Nervosität, da man sich ja für verschiedenste Szenarien eine Strategie zurechtgelegt hat.

Nun können Sie eigentlich nur noch einen großen Fehler machen: Sie machen alles anders als sonst - es ist ja schließlich ein besonderer Tag! Dieser Fehler wird selbst von erfahrenen Leistungssportlern immer wieder begangen. Dabei basiert Spitzensport auf dem Prinzip, dass eine Leistung so lange im Training eingeübt und automatisiert wird, bis sie auch unter stressigen Bedingungen abgerufen werden kann.

Deshalb: Bereiten Sie sich genauso auf den Lauf vor, wie sie das im Training auch machen. Essen und Trinken Sie nichts Ungewohntes (oder üben Sie das Essen und Trinken bereits in den Trainingsläufen). Gehen Sie das Rennen selbst langsam (in Ihrem Tempo) an und lassen Sie sich nicht mitziehen. Steigern Sie nach der Einlaufphase Ihr Tempo. Versorgen Sie Ihren Körper mit Flüssigkeit (und bei längeren Distanzen mit leicht verdaulicher Nahrung). Spulen Sie das trainierte Programm ab.

Ein hilfreicher Trick, um sich auch in stressigen und hektischen Situationen an das geplante Vorgehen, das taktische Konzept zu erinnern, ist, sich einen sogenannten Anker zu setzen. Früher war das der vielzitierte Knoten im Taschentuch. Da man ein solches während eines Rennens selten mit sich führt, muss man zu anderen Möglichkeiten greifen. Damit etwas seine Erinnerungsaufgabe erfüllen kann, sollte man es immer wieder im Blick haben. Deshalb bietet sich die Uhr, bieten sich die Hände an: Machen Sie sich einen Punkt oder irgendeine andere Form von Gedächtnisstütze auf den Handrücken - so werden Sie bei jedem Blick auf die Uhr/den Pulsmesser an das erinnert, was Sie sich vorgenommen haben!

Nachbereitung

Nach großen Wettkämpfen sollte man sich durchaus noch mal einige Minuten Zeit zur Auswertung nehmen. Das Rennen ist gelaufen, das gesteckte Ziel erreicht oder verfehlt. Doch warum kam es, wie es kam? Dieser Frage nachzugehen lohnt sich, denn so entdeckt man individuell gültige Erfolgesrezepte oder kann gemachte Fehler beim nächsten Mal vermeiden.

Was habe ich in meiner Vorbereitung eigentlich gemacht? Was davon hat besonders gut geklappt? Was hat mir Spaß gemacht? Wo bin ich von meiner Planung/den Trainingsplänen abgewichen? So werden jene Faktoren identifiziert, die man auch künftig in die Vorbereitung von Läufen einbauen kann und sollte. Interessanterweise wird meistens - auch bei in Unternehmen verwendeten Systemen des Wissensmanagements - nur positives Wissen (wie man etwas macht) weitergegeben (wenn überhaupt). Das negative Wissen, (wie man etwas nicht machen sollte), die Fehler werden zumeist verschwiegen. Doch oft kann man gerade aus diesen Informationen den größten Gewinn ziehen. So macht es Sinn, sich auch folgende Fragen zu stellen: Was hat in der Wettkampfvorbereitung und während des Rennens selbst nicht geklappt? Wo gab es Schwierigkeiten? Was hat keinen Spaß gemacht? Welche Fehler konnte ich bei mir (oder auch anderen) entdecken? Wenn könnte ich gegebenenfalls um eine Rückmeldung bitten (wenn ich selbst keine Fehler sehen kann, aber dennoch mit meiner Leistung wiederholt unzufrieden bin)?
Zusätzlich kann Modelllernen von Vorteil sein: Betrachten Sie sich mal erfolgreiche Läufer: Wie verhalten die sich im Training? Wie sieht deren Startvorbereitung aus? Wie gehen die ein Rennen an? Was machen die nach dem Zieleinlauf?

Fragen Sie andere nach ihren Erfolgsrezepten. Nicht alles muss auch für Sie passen, aber all diese Fragen können Anregungen bieten zur Optimierung der eigenen taktischen und mentalen Vorbereitung!

Allen Lesern viel Erfolg bei den Zielwettkämpfen und das Erreichen der persönlichen Ziele wünscht
Oskar Handow